Die Violine kreischt, das Klavier hämmert. Der Klavierlehrer hält die Luft an. Wie ist er nur in diese Lage geraten? Wie konnte es bloß zu diesem Duo kommen?
Na gut, zunächst der Anfang. Ein gelungener Einstieg in ein Stück ist ja schon fast mehr als die halbe Miete. Fingersatz, Phrasierung, Anschlag. Schadensbegrenzung erst mal beim Klavier, Geige später. Legato. Crescendo. Und hier gis statt g. Kein Auflösungszeichen! Jetzt klingt‘s irgendwie richtiger. Wenn sich doch bloß die ganze Situation hier auflösen würde! Das wäre auch irgendwie richtiger! Aber wie gesagt: Kein Auflösungszeichen. Nirgendwo. Für nichts und niemanden. Nicht einmal für die Zeit, die sich gerade ins Unendliche dehnt, statt dass sie sich – wie es doch auch oft der Fall ist – wie von selbst in Luft auflöst.
Plötzlich mitten im Vortrag (die Violine kreischt, das Klavier hämmert wie zuvor) fliegt die Tür auf. Ein Kollege stürmt herein, streckt dem Klavierlehrer beide Hände entgegen und ruft: „Mein Beileid, Kollege! Mein Beileid!“ Dabei quellen ihm vor lauter Beileid fast die Augen aus dem Gesicht, während er seine Arme kräftig auf und ab schüttelt, um dadurch seiner Anteilnahme noch mehr Ausdruck zu verleihen. Doch so schnell wie er aufgetaucht ist, ist er auch schon wieder verschwunden. Im Zimmer zurück bleibt betretenes Schweigen. Dagegen hilft allerdings nur eins: erneutes Kratzen und Hämmern, Hämmern und Kratzen, diesmal mit Handgelenk und Armgewicht und einem grandiosen Fortissimo, das jegliche Scham aus diesem viel zu eng gewordenen Musikzimmer zu vertreiben versucht.
Es grenzt an ein Wunder, dass der Lehrer trotzdem noch lange Jahre danach nicht die Lust am Unterrichten verloren hat und die beiden Musiker ihren Instrumenten bis heute treu geblieben sind. Gut möglich, dass alle drei diese Klavierstunde ganz, ganz schnell vergessen haben. Oder verdrängt. Oder beides. Denn wie gesagt: Kein Auflösungszeichen. Nirgendwo. Für nichts und niemanden.